Widerstand und Alternativen
Ich schlage vor, wir reden jetzt über das, was wir nicht mehr wollen, was wir nicht mehr ertragen, was sich ändern muss. Aber auch darüber, was wir tun wollen, über Alternativen.
Den Anfang soll der Beitrag machen „Ich will nicht mehr“. Der entstand, als ich als Bezieher von Hartz IV – Leistungen zum Bewerbertraining musste und mir gesagt wurde: Vergiss alles, was du mal warst, dein Wissen, deine Erfahrungen und dein Selbstbewusstsein. Du hast nur noch einen Zweck, und zwar einen Käufer für dich zu finden; wer sich nicht verkaufen kann, der ist wertlos. Dann haben wir trainiert, nicht nur wie man seine Arbeitskraft präsentiert, sondern auch, wie man dem Käufer persönlich gefällt.
Ich will nicht mehr
Jeder Mensch trägt in sich einen Teil der Geschichte seines Volkes, und es ist die Gegenwart, die unseren Anteil an der Vergangenheit begründet: was wir heute sind, das sind wir immer schon gewesen.
Ich bin der ewige Sklave, solange es dieses Deutschland gibt, bin ich immer nur Sklave. Ich habe gejubelt, wenn König Heinrich mit seinem Gefolge durch mein Dorf zog, dann habe ich abgeliefert: mein Getreide, mein Rind, mein Geflügel und meine Tochter – an die Pfalz, wo die Herren regierten und feierten. Dann habe ich meine Heimat verlassen, ich bin im Auftrag meiner Herren nach Osten gezogen, in die Wälder; die habe ich gerodet und neue Felder angelegt. Sie gaben mir ein Schwert, damit ich die Heiden, die in den Wäldern wohnten, bekehre, unterwerfe oder ausrotte. Ich habe fleißig gearbeitet und tapfer gekämpft; dafür habe ich hundert Jahre lang als freier Bauer gelebt. Aber dann nahmen sie mir wieder alles: mein Feld, meinen Hof, mein Schwert, meine Freiheit. Es waren große Städte entstanden, mit guten Absatzmärkten und der Weltmarkt versprach hohe Profite. Da brauchten sie billige Arbeitskräfte und führten die zweite Leibeigenschaft ein. Als ich mich empörte, schlugen sie mich tot und ich musste mich fügen. Ich habe für sie geschuftet und habe meinen Sohn zum Landsknecht machen lassen. Dann sind die Söhne anderer Sklaven als Landsknechte durchs Land gezogen: da wurde ich ersäuft, gerädert, aufgespießt, gevierteilt – mehrmals, immer wieder. Und danach habe ich das Land wieder aufgebaut: das Dorf, die Stadt, das Schloss meiner Herrschaft. Die Herren stritten sich laufend, wem ich gehöre. Sie führten deshalb Kriege; ich habe tapfer mitgekämpft und dem Sieger zugejubelt. Die Herren lieben meinen Jubel über alles und verachten mich dafür, auch heute noch.
Irgendwann habe ich vergessen die letzte Erinnerung an die Freiheit, die letzte Hoffnung war mir genommen für ein besseres Leben auf Erden. Ich habe eingesehen, dass Gott die Knechtschaft will und mich belohnen wird im Paradies für meine Duldsamkeit. Jetzt war ich endgültig ihr Sklave: niemand musste mich zwingen zu gehorchen, ich bin nun meinen Herren gefolgt aus Überzeugung – zuerst als Liebe zu meinem Fürsten, dann aus Liebe zum Kaiser, dann aus Liebe zum Führer, zur Partei. Wie oft habe ich meinen Besitz verloren; wie oft ist mein Sohn ins Feld gezogen und ich habe ihn nie wiedergesehen; wie oft habe ich die Trümmer beseitigt und das Land wieder aufgebaut?
Damit ich auch in der modernen Gesellschaft meinem Herrn treu dienen kann, lehrten sie mich das Lesen, das Schreiben, das Rechnen, die Wissenschaft, die Kunst und das selbständige Denken. Ich habe auch gelernt, was Freiheit bedeutet, und habe angefangen zu zweifeln, ob der ganze Gehorsam gut für mich war. Aber nun gibt es Computer, die nicht mir gehören, und Maschinen, die nicht mir gehören, und meine Arbeitskraft, die nicht mir gehört, wird überflüssig. Meine Herren brauchen mich nicht mehr in der Produktion, sie wollen mich deshalb wieder als Leibeigene besitzen; ich soll alles wieder vergessen, was ich gelernt habe; ich soll wieder denken und fühlen wie ein Sklave; sie tun alles, damit ich wieder gehorche. Sie planen die Einführung der dritten Leibeigenschaft.
Aber nun will ich nicht mehr. Ich habe Euch satt, ich bin nicht mehr bereit, als Euer Sklave zu leben. Mich ekelt Eure Arroganz, Euer Machtanspruch, Eure Geldgier. Ihr seid Nullen und Versager, seht Euch mal die Welt an, die Ihr zu verantworten habt. Woher nehmt Ihr noch das Recht für Eure Großmäuligkeit, woher nehmt Ihr noch den Anspruch, über mich zu herrschen?
Ich habe Euren Stiefel geachtet, bewundert und geliebt, aber nun schmerzt mich jeder Tritt aus dieser verfluchten tausendjährigen Geschichte. Ich kann die Erinnerung nicht mehr aushalten an meine Gesten der Demut, an meine Unterwürfigkeit, an meinen Jubel. Ich schäme mich dafür und die Vorstellung, weiter so zu leben, ist mir unerträglich. Ich will nicht mehr!
Geschichten über rebellische Knechte
Und nun die Alternativen. Auch die sind in der Geschichte zu finden. Die Menschheit hat sich immer mehr Freiheit erkämpft: neue Möglichkeiten für Freiheit wurden genutzt und es wurden neue Möglichkeiten geschaffen. Und nun sind wir soweit, eine Freiheit zu leben, die keine Unfreiheit von Knechten braucht, um sich zu verwirklichen, dafür aber Wissenschaft, Technik und schöpferische Arbeit. Maschinen und Roboter beenden für immer die Sklavenarbeit, wenn ihr Einsatz demokratisch geregelt wird.
Stadtluft macht frei
Die mittelalterliche Jahrtausendwende wird geprägt von einer Krise der feudalen Gesellschaft und von Weltuntergangsstimmung. Recht und Gesetz sind gebunden an das Kaisertum, aber die Kaiser sterben jung, das Volk ist ausgeliefert der Willkür lokaler Feudalherren. Die Wirtschaft stagniert, die Städte verfallen, überall herrschen Hunger und Elend, viele Menschen sterben an Entkräftung. Die Kirchen werden ausgemalt mit menschenfressenden Ungeheuern; Selbstgeißler ziehen klagend durchs Land und verkünden die Ankunft des Antichristen; überall brennen Scheiterhaufen, schwarzer Rauch verdunkelt die Sonne; Raben umkreisen eine wachsende Zahl von Richtstätten. Ständig läutet eine Glocke Sturm, Menschen rennen wahnsinnig vor Angst in die nächste Kirche, sie flehen um die Vergebung ihrer Sünden und verfluchen die Sünderin Eva, die wieder einmal Schuld ist an allem. Der Weltuntergang naht, doch dann entsteht Neues.
996: Der Bischof von Freisingen und der Erzbischof von Salzburg erwerben das Privileg, am Bischofssitz täglich Markt mit Regensburger Münze zu halten. Den Marktbesuchern wird vom Kaiser freien Zugang zugesichert. Dieses Marktrecht gilt für die Städte Mainz, Trier, Worms und Konstanz.
998: Das Kloster Reichenau erwirbt beim Kaiser das Recht, in Allensbach am Bodensee einen Wochenmarkt abzuhalten. Mit dem Marktrecht wird das Recht verliehen, am Marktplatz eine Münzstätte einzurichten, Zoll einzuheben und die Baumgewalt auszuüben.
In ganz Deutschland entstanden neue Siedlungen. Die frühbürgerlichen Siedlungskomplexe, Civitas genannt, vereinten mehrere Feudalsitze. Neben den Feudalsitzen lagen Dienstsiedlungen, sie wurden bewohnt von unfreien Dienstmannen, Hofhandwerkern, hörigen Bauern und kleinen Vasallen. Die Siedlungen vertieften die Arbeitsteilung zwischen landwirtschaftlicher und handwerklicher Produktion und entwickelten sich zu Märkten und Städten.
Die Städte lösten sich vom Einfluss der Feudalherren durch die Kaufleute, die den Fernhandel organisierten. Aus dem gelegentlichen Austausch von Überschüssen entwickelte sich eine eigenständige Warenproduktion, die Arbeitsteilung vertiefte sich weiter und die Städte wurden selbständiger. Weil auch die Feudalherren an den Städten verdienten und die Landwirtschaft nicht mehr alle Menschen beschäftigen konnte, erlaubten sie hörigen Bauern und Handwerkern sich dort anzusiedeln, unter der Bedingung, dass sie hörig bleiben. Aber Stadtluft macht frei. Im Ergebnis kommunaler Kämpfe konnten die Bürger die politischen Rechte der feudalen Stadtherren einschränken, bürgerliche Stadträte konstituierten sich und viele hörige Bauern wollten nicht mehr gehorchen. Die Verlockung der Freiheit führte in vielen Regionen zur Massenflucht von Knechten aus der Leibeigenschaft. Einmal in den Städten angekommen, standen viele entlaufene Knechte unter dem Schutz des Kaisers; der hatte wirtschaftliche und politische Interessen an einem starken Bürgertum.
Das Bürgertum schuf eine neue Wirtschafts- und Lebensweise, eine neue Kultur und neues Denken und formierte sich schließlich zur bürgerlichen Klasse, die mehrere Jahrhunderte lang mit der feudalen Klasse gemeinsam Staaten und Nationen bildeten, mit gemeinsamen Gesetzen, Verwaltungen und Regierungen. Weitsichtige Vertreter der langen Zeit dominierenden feudalen Klasse erkannten, dass sie das Bürgertum brauchen, um die Produktion zu erhöhen, den Handel auszuweiten und die Armut zu beseitigen. Viele Länder, in denen das Bürgertum klein gehalten wurde, blieben rückständig (Spanien, Osmanisches Reich). In Staaten wie Holland und England dagegen verbündete sich der Adel mit dem Bürgertum und verzichtete freiwillig auf Privilegien, Macht und Reichtum, letztendlich auch zum eigenen Vorteil.
Das Bürgertum entwickelte sich erfolgreich, weil Menschen die neue Lebensweise annehmen konnten, ohne zu warten, bis eine Mehrheit so leben will. Sie begannen aus eigener Kraft ein selbständiges Leben und entwickelten nützliche Fähigkeiten; sie veränderten ihre Persönlichkeit und blieben doch ein Teil ihres Volkes, ihrer Religionsgemeinschaft und ihrer Nation.
Die Reformation
Nicht immer handelten die kirchlichen und feudalen Herren weitsichtig, manchmal war auch Widerstand notwendig und eine Veränderung der Gesellschaft: überflüssige Privilegien waren zu beseitigen, Willkür und Verschwendung zu beenden, Strukturen aufzubrechen und der Stumpfsinn zu überwinden. Die Institutionen der Gesellschaft waren anzupassen an die neue ökonomische und politische Wirklichkeit.
1520:Martin Luther, ein rebellischer Mönch, verheiratet mit einer entlaufenen Nonne, wendet sich „An den christlichen Adel deutscher Nation“: „Die Not und Beschwerung, die alle Stände der Christenheit, zuvor die deutschen Lande, drückt, hat nicht allein mich, sondern jedermann bewegt, vielmals zu schreien und Hilfe zu begehren, und hat mich auch jetzt gezwungen, zu schreien und zu rufen, ob Gott jemand den Geist geben wolle, seine Hand zu reichen der elenden Nation.“
Der Konflikt zwischen dem Kaiser und dem Papst endete mit der Unterwerfung des Kaisers. Die Zentralgewalt ist entmachtet und die Fürsten sehen zu, wie die katholische Kirche das Volk ausplündert, um die Großmachtansprüche des Vatikans zu finanzieren.
„Nun Welschland ausgesogen ist, kommen sie ins deutsche Land, heben fein säuberlich ab … Der Antichrist muss die Schätze der Erde heben, wie es prophezeit ist. Das geht so her: man schäumet ab von den Bistümern, Klöstern und Lehen … Wie kommen wir Deutschen dazu, dass wir solche Räuberei, Schinderei unserer Güter von dem Papst leiden müssen? Hat das Königreich Frankreich sich dessen erwehrt, warum lassen wir Deutschen uns so narren und äffen? … Ja, es meinen etliche, dass jährlich mehr denn dreimalhunderttausend Gulden aus Deutschland gen Rom kommen, rein vergebens und umsonst … Wir verwundern uns noch, dass wir noch zu essen haben.“
Im Mittelalter konnte die Kirche durch den Besitz von Grund und Boden und durch Privilegien menschliche Arbeit ausbeuten ohne selbst Arbeit zu organisieren; der Papst, die Kardinäle und das ganze „Gewürm und Geschwürm zu Rom“ kassierten ab in Form von „Adjudorien, Reservation, gratiae ex pectativae, Papstmonaten, Inkorporationen, Union, Pension, Pallien, Kanzleiregeln“ und dergleichen. Die Kirche investierte ihren Reichtum nicht in Landwirtschaft, Handwerk oder Handel, sondern in Luxus und Prestige; sie verkaufte überflüssiges Zeug – Ablass, Bullen, Beichtbriefe und andere Confessionales – die Christen mussten ständig zahlen, um selig sein zu dürfen.
Luther fordert: die kirchlichen Würdenträger sind vom Christenvolk zu wählen; Recht und Gesetz gelten für alle; die Gemeinden kontrollieren die Arbeit der Würdenträger und die Verwendung des Eigentums; das Geld gehört in die Hände derer, die damit wirtschaften und die Not des Volkes lindern.
Warum war die Reformation so erfolgreich? Sie entsprach den Interessen großer Teile des Bürgertums und förderte den Kapitalismus – bürgerliche Ethik und reformierter Glaube stimmen überein. Auch weitsichtige Vertreter der feudalen Klasse unterstützten die Reformation im nationalen Interesse. Jeder freie Bürger konnte den reformierten Glauben annehmen, ohne zu warten, bis alle das tun. Die Reformation verwandelte Objekte der Papstkirche in Subjekte des Glaubens, die ohne elitäre Vermittlung zu Gott beteten. Luther erklärte: Allein, weil du an Gott glaubst, bist du ein guter Christ; dein Gewissen ist wichtiger als die Vorgaben der Macht. Das Ausscheiden aus der katholischen Kirche brachte auch ökonomische Vorteile, die Gemeinden konnten ihre finanziellen Mittel für eigene Zwecke verwenden. Die Bibel, das Buch des alten Glaubens, behielt seine Gültigkeit im neuen Glauben, die Menschen konnten in die reformierte Kirche eintreten, ohne ihre Identität als Christen aufzugeben. Die Reformation brauchte Ideengeber aber keine Führer.
Die Französische Revolution
Im gegenwärtigen Europa verstärken sich die Tendenzen für Stagnation und Niedergang: Die Machtverhältnisse in der Gesellschaft und in der Ökonomie passen nicht zusammen. Die Privilegien von Eliten sind nicht mehr mit ihrer Verantwortung zu begründen und widersprechen den Interessen der Mehrheit des Volkes. Der Widerspruch zwischen der Selbständigkeit von Menschen aus neuer Verantwortung und der Unselbständigkeit aus alter Herrschaft wird für viele Menschen unerträglich. Die objektiven Funktionen des gesellschaftlichen Reichtums stimmen nicht überein mit seiner privaten Verwendung. Die herrschenden Theorien und Ideologien verschleiern die Probleme und verhindern ihre Lösung. Die elementaren Bedürfnisse des Volkes werden missachtet. Wohin es führt, wenn diese Widersprüche nicht gelöst werden, das hat Europa schon einmal erlebt, die Übereinstimmung wird immer größer:
Ludwig konnte das alles nicht verstehen. Er hätte so gerne gerufen: „Warum tut ihr das, ich liebe euch doch alle.“ Aber die brüllende Meute auf dem Richtplatz hätte seine Worte nicht verstanden und schon gar nicht gewürdigt. War das noch sein wunderbares französisches Volk? Noch vor wenigen Jahren jubelten die Menschen, wenn die königliche Karosse durch das Land fuhr; die Bauern zogen den Hut und fielen auf die Knie, und wenn die königliche Hand im Vorbeifahren winkte, dann leuchteten die Augen der Frauen. Woher kommt nur dieser Pöbel, den gab es doch früher nicht?
Gottes Wille ist unergründlich und Ludwig wird Seine Prüfung bestehen. Aber eines ist sicher: Niemals lässt Gott zu, dass die geheiligte Ordnung zerstört wird. Es gibt drei Stände – Lehrstand, Wehrstand und Nährstand – und über allen steht der König. So ist es seit Urzeiten und so wird es bleiben. Verflucht sollen sie sein, diese Ketzer.
Die Revolution wurde am königlichen Hof zunächst ignoriert. Die Überbringer der Nachrichten aus Paris fanden den König meistens in der Schlosserwerkstatt und die Königin im Park beim Schäferspiel – ihre Lieblingsrolle war das unschuldige Mädchen vom Lande. Die Höflinge fragten sich ratlos: Was ist nur los da draußen, was wollen die eigentlich? Wir haben doch alles geregelt.
Der Großvater des letzten französischen Monarchen, der Sonnenkönig Ludwig XIV, hatte die Herausbildung des Absolutismus vollendet. Das Königtum verbündete sich mit dem Hochadel und mit dem Bürgertum, es schränkte die Privilegien und die Macht des mittelalterlichen Rittertums und der Landjunker ein. Frankreich erhielt eine zentrale Staatsgewalt, es bildete sich ein einheitlicher Markt – die wichtigsten Grundlagen waren geschaffen für die Große Nation. Der Hof förderte die wirtschaftliche Entwicklung und stärkte die bürgerliche Klasse, dafür erhielt er Luxusgüter, Waffen und Geld. Frankreich wurde zum mächtigsten Staat in Europa.
Der Absolutismus vereinte die Nation und vertiefte gleichzeitig die Unterschiede zwischen den Klassen. Die Widersprüche spitzten sich zu, aber das allein hätte nicht zu einer Revolution geführt. Das Bürgertum und der Adel lebten einträchtig und einträglich zusammen; man heiratete untereinander, der Bürger gab das Geld, der Edelmann seinen Titel und das gute Leben. Auch das Volk wollte keinen Umsturz, nur eine Verbesserung seiner Lage. Es liebte seinen König und seine Königin, es glaubte an das Gottesgnadentum der Monarchie und stand fest zur Religion. Der Adel und der Klerus mussten schon ein Übermaß an Dummheit, Arroganz und Geldgier aufbieten, um das Volk derart auf die Barrikaden zu bringen.
In Frankreich lebten damals 25 Mio. Menschen, davon 20 Mio. als Bauern. Dieser Stand zahlte fast alle Steuern, die ständig erhöht wurden und wenn der König mal schnell Geld brauchte, dann dachte er an seine Bauern und erhob eine Sondersteuer. Dann gab es noch die Krautjunker, die alte Rechte besaßen und eigene Abgaben eintreiben durften. Dem Klerus gehörte wie im Mittelalter etwa 13% der Erträge als Zehnt. Auf Missernten nahmen die Herren keine Rücksicht, man hatte schließlich zu repräsentieren. Den Bauern fehlte das Geld für Investitionen und die meisten Adligen investierten auch nicht, sie legten ihr Geld lieber auf den Finanzmärkten an, wo sich der König das Geld lieh für seine Hofhaltung und Kriege. Die Folgen dieser Situation waren Rückständigkeit und Schlendrian. Der Hass der Bauern auf den Adel wurde immer größer. Viele wollten nicht mehr schuften um dann alles abzuliefern, sie verließen ihr Dorf und zogen mit einer ordentlichen Portion Wut im Bauch nach Paris. Dort lebten sie zumeist als Teil der städtischen Unterschicht.
Das waren vor allem die armen Lohnempfänger ohne festes Einkommen: Tagelöhner, Transportarbeiter und Lastenträger, Boten, Garten,- Erd- und Straßenarbeiter, Händler. Dazu kamen Bedienstete und Gesinde des Adels: Lakaien, Kutscher und Köche. Ganz unten lebten „ehrsame Arme“ und Pöbel: Bettler, Witwen, Waisen, Gebrechliche, Kranke, Diebe, Prostituierte und immer mehr Arbeitslose. Schon damals empfahlen Wirtschaftsweise, die Lohnempfänger und Arbeitslosen am Rande zum Existenzminimum zu halten damit sie jede Arbeit annehmen. Nach einer Missernte stiegen plötzlich die Preise der Lebensmittel und das physische Existenzminimum wurde unterschritten. Da hatten viele Franzosen die Wahl: hungern oder rebellieren.
Das Bürgertum hatte dem königlichen Hof viel zu verdanken, es verdiente gut mit Anlagen auf den Finanzmärkten und war mehrheitlich interessiert am Erhalt des Absolutismus. Aber dann kam die Finanzkrise und beim Geld hört die Freundschaft bekanntlich auf. Der Staatshaushalt der Monarchie wurde veröffentlicht und löste Empörung aus:
Einnahmen: 503 Mio. Livre
Ausgaben: 629 Mio. Livre
Neue Anleihen: 136 Mio. Livre
Hofhaltung: 36 Mio. Livre
Schulwesen und Sozialhilfe: 12 Mio. Livre
Armee, Marine: 165 Mio. Livre
Schuldendienst: 318 Mio. Livre
Die Staatsschuld betrug 5 Mia. Livre bei 2,5 Mia. Livre Geldumlauf.
Vom Volk war nichts mehr zu holen und der König musste entscheiden: Konkurs anmelden oder Steuern von den Reichen erheben. Ein Konkurs hätte die Investoren aus ganz Europa erzürnt, schon jetzt wollte niemand mehr Anleihen kaufen und das Vertrauen der Finanzmärkte musste wiederhergestellt werden. Deshalb empfahlen einige Minister dem König, er solle den Adel und den Klerus zur Kasse bitten und Reformen durchführen: Verkauf von Staatsbesitz, Einführung einer Grundsteuer, Anreize zur Erhöhung der Produktion.
Aber auch diesmal verhinderten Adel und Klerus jede Einschränkung ihrer Privilegien, sie verlangten den Sturz der Regierung und der schwache König gab nach. Diese Situation wollte der Ritteradel nutzen, um nun auch noch die absolutistische Monarchie loszuwerden und das gute alte Mittelalter wiedereinzuführen. So etwas wollte das Bürgertum verhindern und leistete Widerstand. Schließlich stiegen die Getreidepreise weiter durch Spekulation und das Volk rebellierte. Es entstand ein völliges Durcheinander. Jeder verbündete sich mit Jedem gegen die Anderen und alle waren gegen den König. Nichts ging mehr, die Regierung war machtlos und die Ereignisse überschlugen sich: Sturm auf die Bastille, Auflösung der Armee, Wahl der Nationalversammlung, Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, Entmachtung des Adels und des Klerus im ganzen Land, Auflösung feudaler Abhängigkeiten, Bewaffnung des Volkes, Abwehr der feudalen Konterrevolution, Verhaftung der königlichen Familie, Aufstand des niederen Volkes gegen Adel und Großbürgertum, Ausrufung der Republik, revolutionärer Terror und die Guillotine für König und Königin und viele andere.
Das kommt davon, wenn die Politik zu viel Rücksicht nimmt auf die Privilegien einer Klasse, deren Gier jede Vernunft verhindert.
Lesende Arbeiter
In seinem Roman „Die Mutter“ beschrieb Maxim Gorki einen Arbeiter, der sich aus eigener Kraft erhebt über erbärmliche Zustände und sich befreit aus Dumpfheit, Unwissenheit und Gewalttätigkeit und so eine neue Zeit ankündigt.
„In den gegenseitigen Beziehungen der Menschen überwog das Gefühl lauernder Gehässigkeit, es war ebenso eingewurzelt wie die unheilbare Müdigkeit ihrer Muskeln. Die Menschen wurden mit diesem Seelenleiden als Erbteil ihrer Väter geboren, es begleitete sie wie ein schwarzer Schatten bis zum Grabe und trieb sie im Laufe ihres Lebens zu einer Reihe von Handlungen, die durch ihre sinnlose Grausamkeit abscheulich waren … Das Leben war von jeher so gewesen – es floss wie ein trüber Strom gleichmäßig und langsam, jahraus, jahrein dahin und wurde durch die starre, uralte Gewohnheit, Tag für Tag ein und dasselbe zu denken und zu tun, gänzlich in Fesseln gehalten. Und niemand hatte das Verlangen eine Änderung zu versuchen …“.
Die Mutter freute sich, weil ihr Sohn nicht so erbärmlich lebte wie die anderen Fabrikarbeiter, als sie aber bemerkte, dass er sich zielstrebig absondert, erzeugte das ein unklares Angstgefühl. Pawel zur Mutter:
„Ich lese verbotene Bücher. Sie sind deswegen verboten, weil sie die Wahrheit über unser Leben, das Leben der Arbeiter sagen … Ich begreife selbst nicht, wie das gekommen ist. Von klein auf habe ich alle gefürchtet; als ich heranwuchs, begann ich sie zu hassen, die einen wegen ihrer Gemeinheit, die anderen – ich weiß nicht weshalb – einfach so. Jetzt aber sehe ich alles anders, vielleicht weil sie mir leidtun. Ich kann es mir nicht erklären, aber mein Herz ist weicher geworden, seit ich erkannt habe, dass nicht alle an ihrem Schmutz selbst schuld sind … Wir müssen unseren Feinden zeigen, dass unser Knechtsdasein, das sie uns aufgebürdet haben, uns nicht hindert ihnen an Verstand ebenbürtig, ja sogar überlegen zu sein.“
Die stalinistischen Führer fürchteten die Pawels und brachten Millionen von ihnen um, die historische Chance für ein besseres Leben wurde vernichtet, der Versuch, die Klassengesellschaft durch eine Diktatur zu beseitigen, ist gescheitert. Und trotzdem ist viel geblieben, vor allem die Erinnerung an Menschen, die sagten: Ich will nicht mehr so leben, ich mache das nicht mehr mit. Viele Kinder und Enkel der Pawels haben dazugelernt, es sind gesellschaftskritische Bewegungen entstanden, die keine Führer brauchen und nicht missbraucht werden.
Das Internet
Das Internet wurde aufgebaut von jungen, selbstbewussten, kreativen und risikofreudigen Pionieren. Sie schufen eine wichtige Voraussetzung für die New Economie und für die Industrie 4.0, den größten wissenschaftlich-technischen und wirtschaftlichen Umwälzungen in der Geschichte.
Das Internet wird aber missbraucht für die Gier nach Macht und Geld. Außerdem mögen viele Spekulanten und Machtmenschen nicht das Selbstbewusstsein der Gründergeneration.
„Wir wachen auf und verbünden uns miteinander. Wir beobachten. Aber wir werden nicht warten.“
Rick Levin, Christopher Locke, Doc Searls und David Weinberger – Pioniere des Internets und Mitbegründer des World Wide Web, teilen in ihrem Cluetrain-Manifest mit, dass sie die New Economie nicht jenen überlassen wollen, die schon die Old Economie verbockt haben:
„Wer gibt uns die Genehmigung unsere Welt zu erforschen? Die Frage setzt voraus, dass die Welt jemanden gehört. Wer gibt uns die Berechtigung, unsere Erfahrungen weiter zu geben, das, woran wir glauben, und das was wir in dieser Welt für uns entdeckt haben? Diese Frage steht für eine Geschichte der Unterdrückung von Identitäten und ganzer Kulturen, denen suggeriert wurde, dass nur Macht das Vorrecht geniest, sich mitteilen zu dürfen. Denn die Möglichkeit zu artikulieren, bedeutet Macht. Sie beinhaltet Eigentumsrechte und Kontrollinstrumente, die sich aus diesen Eigentumsrechten ergeben.“
Dachtet Ihr wirklich, das Internet allein macht alles besser?
„Alle fühlen sich miserabel. Ein jeder hat die Nase voll. Die Leute können es kaum noch ertragen, nur noch als potentielle Käufer ins Visier genommen zu werden, als Melkkühe einer satanischen Maschinerie der Neuzeit. Sie sind es leid, für Unternehmen zu arbeiten, die sie behandeln, als seien sie gar nicht existent, und als Krönung versuchen, ihnen all den Kram zu verkaufen, den sie selbst produziert haben. Warum wird nun ein so vielversprechendes Medium wie das Internet genutzt, um die ermüdenden Lügen der vierzigjährigen Geschichte des Fernsehens fortzuschreiben? Die Welt hat sich des Menschlichen, das für uns unantastbar schien, wie ein Bauchredner bedient.“
Die Geschichte lehrt: Die neue Gesellschaft muss klüger, effektiver und innovativer sein als die alte Gesellschaft um sich durchzusetzen. Das reicht aber nicht aus, man muss auch überholte Privilegien beseitigen und die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern. So wie beim Aufbau des Internet werden jetzt Einfallsreichtum, Initiative und Mut gebraucht für ein politisches World Wide Web zur Demokratisierung der Ökonomie.
Zukunft der Arbeit
Die „Knechte“ von heute müssen auch deshalb rebellieren, weil gehorsame Knechte immer weniger gebraucht werden. Vor 150 Jahren arbeiteten in Deutschland 40% der Berufstätigen in der Landwirtschaft, heute produzieren 2% mehr Nahrungsmittel als die Deutschen verbrauchen. Auch in der Industrie sinkt seit Jahrzehnten die Anzahl der Beschäftigten, Wissenschaftler sagen voraus, dass bald 10% ausreichen, um die Industrieproduktion zu sichern. Die Zeit der massenhaften Beschäftigung in arbeitsteiligen Prozessen geht zu Ende. Die gesellschaftlich notwendige Arbeit wird in Zukunft vorwiegend in den Bereichen Soziales, Kultur und Ökologie geleistet: Die Natur ist zu schützen und zu pflegen; Umweltschäden sind zu beseitigen; Kunst und Kultur sind zu fördern; die Menschen müssen sich ein Leben lang bilden; immer mehr alte Menschen brauchen Pflege und Betreuung; die Gruppenstärke in Kindergärten und Schulen ist zu verringern. Diese Arbeit besitzt folgende Merkmale: geringer Verbrauch an Naturstoffen und wenig Abfälle; hohes Maß an Selbständigkeit der Beschäftigten; es findet kein zerstörerischer Konkurrenzkampf statt. Die massenhafte Beschäftigung von Arbeitnehmern verlangt, das Kapital zu konzentrieren; die neue Selbständigkeit verlangt, die ökonomische Macht zu verteilen.
Die Arbeitsleistung in der modernen Ökonomie wird nicht mehr als Arbeitszeit gemessen; nicht die Dauer der Arbeit interessiert, sondern Fähigkeiten und Qualifikation, kreatives Denken und schöpferisches Handeln, Initiative und Verantwortung. Die Bezahlung der Arbeitsleistung erfolgt hier nicht als Lohn, sondern faktisch als Honorar, wie bei Selbständigen. In vielen Unternehmen verwandeln sich Arbeitnehmer in selbständige Mitarbeiter, die immer mehr die Mentalität von Befehlsempfängern ablegen. Sie übernehmen Verantwortung und Risiken im Produktionsprozess und auf Märkten; sie denken und entscheiden wie Unternehmer und sie werden immer mehr die Rechte von Unternehmern beanspruchen.
Die vierte industrielle Revolution integriert die Kommunikations- und Fertigungstechnik; die Fließbänder werden ersetzt durch flexible Technologien, die nach kurzer Umstellung verschiedene Erzeugnisse herstellen und spezielle Kundenwünsche erfüllen; Roboter arbeiten präziser, schneller und zuverlässiger als menschliche Hände. Die vernetzte Industrie verlangt ein hohes Maß an Verlässlichkeit und Planungssicherheit bei der Versorgung mit Rohstoffen, beim Absatz der Erzeugnisse und bei Investitionen, der Konkurrenzkampf wird ergänzt durch immer mehr Kooperation und Planung. Es wächst die politische Verantwortung der Gesellschaft für die Ökonomie: Infrastruktur, Bildung, Wissenschaft und Forschung, Rechtssicherheit, politische und soziale Stabilität, territoriale und globale Kooperation, Organisation von Netzwerken, stabile Finanzen und Lösung von Konflikten. Die o.g. Anforderungen zeigen, dass der private Kapitalverwertungsprozess und die gesellschaftliche Reproduktion auf neue Weise vernetzt werden müssen, Privatinitiative und Verantwortung bleiben nicht das Privileg von Eliten, sie brauchen die ganze Gesellschaft und die Demokratie, eine Diktatur wird versagen.
Die neuen Chancen für die Menschheit sind verbunden mit neuen Gefahren. Im vergangenen Jahrhundert gab der Mangel an Arbeitskräften den Lohnarbeitern ökonomische und politische Macht und es wurden demokratische und soziale Rechte erkämpft. Diese Errungenschaften sind in Gefahr, weil ein Teil der besitzenden Klasse die für Lohnarbeit nicht mehr gebrauchten Menschen wieder als Leibeigene oder Sklaven ausbeuten will. Aus der Tatsache, dass Maschinen präziser und schneller arbeiten als Menschen wird geschlussfolgert, dass Menschen durch technische und genetische Manipulation in Maschinen zu verwandeln sind, erste Maßnahmen werden bereits erprobt. Der Kapitalismus droht zu pervertieren und nicht zum ersten Mal in der Geschichte werden Machtphantasien zum Sachzwang erhoben und Unmenschlichkeit wissenschaftlich begründet. Der Wille zur Macht ist aber nicht das einzige Wollen, es gibt auch den Willen zum Recht und zur Nachhaltigkeit und der verlangt: Die Ökonomie braucht kreative und schöpferische Menschen, die auch gesellschaftliche Probleme eigenverantwortlich lösen. Es sind Voraussetzungen zu schaffen, dass der Rückgang der Lohnarbeit zu mehr Unabhängigkeit und Selbständigkeit führt, die Vielfalt nützlicher Arbeit ist zu fördern, auch außerhalb der Kapitalverwertung. Dazu ein Beispiel:
Zwischen 1991 und 2012 sank in Deutschland die Arbeitszeit pro Beschäftigten um 10,6 % und gesamtgesellschaftlich um 6 %, immer mehr ehemalige Arbeitnehmer beschäftigen sich jetzt selbst, es etabliert sich eine Do-it-yourself-Bewegung: Gemeinschaftsgärten, Nähwerkstätten, Selbsthilfegruppen, Kartoffelkombinate, freie Kulturarbeit. Hier entsteht ein neues Verständnis für Arbeit: „Künstlerisch-schöpferisches In-der-Welt-sein und Formen von Welt; Welt als Möglichkeit und Fülle“; die Natur wird nicht ausgebeutet, man will mit ihr kooperieren; es wird gefunden, geerntet kreiert, eingegriffen, frei genutzt; man entzieht sich dem Profitzwang und dem Konsumprinzip; neue Technik wird verbunden mit traditionellem Handwerk. (vergl. Baier u.a. 2013)
Die Zukunft der Arbeit und damit der menschlichen Existenz hängt wesentlich davon ab, wie das Geld eingesetzt wird und ob es gelingt, die Geldwirtschaft zu demokratisieren. In den vergangenen Jahren wurden die Funktionen des Geldes erweitert, es wird immer mehr eingesetzt für politische Ziele. Entscheidend ist, wer die politischen Ziele festlegt und seine Interessen durchsetzt. In der nachhaltigen Ökonomie sichert das Geld vor allem die erweiterte Reproduktion von Arbeits- und Lebenswelten, von Systemen der Kooperation und von ökonomischen Gliederungen.
Gerhard Bernhardt